Einleitung
Zwar ist Taiji Quan nach wie vor eine Kampfkunst, doch ist es nichtsdestotrotz die Langsamkeit, die dem Schüler eine Chance gibt, die unerschöpfliche Tiefe des Taiji Quan zu
erforschen und zu erfahren.
Gerade die Langsamkeit wird damit für viele zur Herausforderung, denn sie konfrontiert uns mit unserem Mangel, im Hier und Jetzt und in unserem Körper sein zu können; sie konfrontiert uns mit
unserer latenten inneren Unruhe und unserem Streben nach schnellem Erfolg. Doch ohne Langsamkeit ist es uns nicht möglich, die vier „Tugenden“ zu erfüllen, ohne die Taiji Quan nicht zur
Blüte gelangen kann. Diese Vier sind Genauigkeit, Achtsamkeit, Leichtigkeit und Innerlichkeit.
I. Genauigkeit
Präzision sowohl in Haltung als auch Bewegung gewährleistet, dass die notwendige Zentrierung und Verwurzelung möglich werden und das Qi optimal durch den Körper strömen kann. Dazu ist
das Beachten der sogenannten Endpunkte (Ding Dian) als auch das Timing in der Ausführung maßgeblich. Nur wenn die Endpunkte präzise ausgeführt werden, kann die Form stabil und ausgewogen
werden; nur wenn das Timing präzise ausgeführt wird, vermag der Körper sich harmonisch als Ganzes zu bewegen.
Um die geforderte Genauigkeit zu gewährleisten ist es unablässig, die Formen langsam und gewissenhaft zu üben. Die Langsamkeit ermöglicht, die Korrektheit der Positionen zu überprüfen und gezielt
auf das korrekte Timing in der Bewegung zu achten.
II. Achtsamkeit
Der Anfänger steuert und kontrolliert die Bewegung seines Körpers von außen, das heißt hauptsächlich über die Augen. Deshalb bevorzugen viele Anfänger auch eine Spiegelwand zum Üben. Doch es
reicht nicht aus, einfach kopfgesteuert Körperteile in der richtigen Reihenfolge zu bewegen. Vielmehr müssen wir fühlen, das heißt erfahren, dass alle Teile miteinander verbunden sind und sich
gemeinsam bewegen. Wir müssen fühlen, dass nur durch das richtige Timing sich optimale Koordination, Balance und Bewegungsfluss ergeben.
Nur das langsame Üben erschafft den Raum, den wir mit der notwendigen Achtsamkeit und Bewusstheit füllen können, um vom bloßen äußeren Tun zum Fühlen zu gelangen. Und erst im Fühlen
erschließt sich uns der Sinn des Tuns.
III. Leichtigkeit
Der Schlüssel zu Leichtigkeit ist die Fähigkeit, funktionell entspannen zu können. Entspannung kann allerdings nicht einfach gemacht werden. Sie muss geschehen, und dazu bedarf es der nötigen
Voraussetzungen, wie der korrekten Haltung und eines tiefen Körpergefühls.
Viele Anfänger hetzen gerade deswegen durch die Bewegungsformen, um ihrer Blockierungen und Verspannungen nicht bewusst werden zu müssen. Doch tiefe Entspannung ist Ausdruck von Natürlichkeit
(Ziran) in Haltung und Bewegung, und Natürlichkeit erlangen wir nur durch Bewusstheit.
IV. Innerlichkeit
Selbst mit Genauigkeit, Achtsamkeit und Leichtigkeit bleibt unser Praktizieren doch ungenügend, wenn wir nicht auch Innerlichkeit zu üben wissen. Innerlichkeit erreichen wir über das Einbeziehen
von rechter Absicht/Intention (Yi) und durch das Kultivieren der Inneren Prinzipien. Intention und Prinzipien geben der äußeren Haltung und Bewegung erst Inhalt und Sinn.
Nur durch ein ruhiges, konzentriertes und langsames Üben kann es uns gelingen, äußere Form mit Inhalt zu füllen und dadurch lebendig zu machen.
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