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Qi Gong Gong Fu - Die Qi Gong-Fertigkeit

 

Nei Gong  

In vorangegangenen Artikeln habe ich versucht herauszustellen, dass die Ausführung von Qi Gong-Bewegungen genau genommen nur dann verdient, Qi Gong – sprich „Energie-Arbeit“ – genannt zu werden, wenn dabei auch Innere Übung (nei Gong) geschieht. 

 

Leider herrscht gemeinhin nur wenig Verständnis, was mit Nei Gong eigentlich gemeint ist. So werden darunter oftmals die Übungen des „Stillen Qi Gong“ im Gegensatz zum „bewegten Qi Gong“ verstanden. 

 

Das ist aber nur bedingt richtig. Doch seit der chinesischen Kulturrevolution, die das alte Wissen und die spirituellen Traditionen der ehrwürdigen chinesischen Kultur nahezu gänzlich vernichte, werden von der chinesischen Regierung in erster Linie moderne (versportlichte) Qi Gong-Systeme gefördert und propagiert. Diese orientieren sich zwar an der Theorie der TCM und besitzen sicherlich einen gesundheitlichen Nutzen, die innere Methode (nei fa) – haben sie jedoch eingebüßt. Daher kommt die unzulängliche und oberflächliche Unterscheidung in „Äußere Übung“ (wai gong) als bewegtes Qi Gong (dong gong) und „Innere Übung“ (nei gong) als „Stilles Qi Gong“ (jing gong).

 

Ein anderes Missverständnis liegt darin, im Nei Gong spezielle geheime Übungen sehen, die schnell zu besonderen Fähigkeiten führen. Ich sage nicht, dass es nicht Lehrer gibt, die Übungen vorenthalten, doch selten ist eine spezifische Übung das Geheimnisvolle, denn sie ist nicht viel mehr als eine Hülle. Das Verständnis und die Methode, um dieser Hülle Leben einzuhauchen, sind das eigentliche Geheimnis. 

 

 

Gong Fu

Nei Gong können wir demnach am besten als die spezifische Fertigkeit (gong fu) verstehen, wirklich Qi Gong in einer Bewegung zu praktizieren, das heißt gezielt und vorsätzlich auf das Qi und die damit verbundenen komplexen inneren Lebensprozesse einwirken zu können. Diese Befähigung zu „Innerer Arbeit“ besteht dabei aus mehreren Komponenten:

 

a) Stabiles, konzentriertes Bewusstsein, sprich die Fähigkeit, sich mehrere Minuten bis mehrere Stunden ununterbrochen und mit ruhiger und ungeteilter Aufmerksamkeit auf sich selbst konzentrieren zu können.

b) Gesteigerte Sensibilität, sprich die Fähigkeit, tief in die inneren Strukturen des Organismus (z.B. Bindegewebe, innere Organe) hineinzufühlen und sie durch (Mikro-) Bewegungen oder rein durch das Bewusstsein beeinflussen zu können. Dazu gehört auch die Fähigkeit, den Qi-Fluss wahrnehmen und beeinflussen zu können.

c) Intrinsische Intelligenz, sprich das intrinsische Gespür dafür, welche inneren Aktionen zu einer Optimierung der physischen, feinstofflichen und psychischen Ausgangssituation führen.        

 

Dieses spezifische Gong Fu, bestehend aus stabiler Achtsamkeit, Tiefensensibilität und intrinsischer Intelligenz, wird auch „die Fähigkeit, nach innen zu sehen“ (nei shi gong fu) genannt. Dieses Gong Fu ist der eigentliche Grund, warum sich echte Qi Gong-Übungen also so ungeheuer effektiv beweisen, denn so vermag ihre Wirkung aus der Tiefe zu kommen. Es wird einleuchten, dass eine Übung, Technik oder Bewegung ohne Weiteres in mehreren Stunden, Tagen oder Wochen erlernt und „gemeistert“ werden kann, dagegen die Befähigung zu innerer Arbeit über Jahre und Jahrzehnte stetig entwickelt werden muss. Nicht in der äußeren Übung, sondern in der inneren Fertigkeit liegt daher die Meisterschaft, zumindest, was wahres Qi Gong betrifft. 

 

 

Han Xiong Ba Bei 

Ich möchte jetzt zwei leicht nachvollziehbare Beispiele für spezifische Qi Gong-Fertigkeiten geben. Es ist offensichtlich, dass die meisten Qi Gong-Übungen Armbewegungen einsetzen und es ist allgemein bekannt, dass dabei jede unnötige Muskelspannung verhindert werden soll, da sie den Qi-Fluss behindert. Doch gleichfalls muss auch das Bindegewebe gelöst werden, denn auch verklebtes Bindegewebe verhindert den freien Fluss der Lebenskraft. Und nicht nur das. Neben dem Einsatz der Intention ist es vor allem das gezielte Stimulieren und Bewegen des Bindegewebes, die das Qi zum Fließen bringen. Auch das ist ein Grund für die geforderte Entspannung in der Bewegung, denn kontrahierte Muskeln verhindern die Aktivierung (Dehnung und Öffnung) der tieferen Gewebsstrukturen.

 

Doch kommen wir vorerst zur Armbewegung zurück. Armbewegungen sind ohne funktionierende Schultergelenke unvorstellbar. Wenige wissen jedoch, dass nicht nur die Schultergelenke beteiligt sein sollen, sondern auch die Schulterblätter. Denn die Bewegung der Schulterblätter optimiert nicht nur den Bewegungsradius der Arme und entlastet die Schultergelenke, es sind auch die Schulterblätter, die die Arme an den Rumpf und die Wirbelsäule „anschließen“, physisch und energetisch die optimale Kraftübertragung gewährleisten und das komplette Bindegewebe von Kopf, Nacken und oberen Rücken in Bewegung bringen, um einen optimalen Energiefluss in diesen Regionen zu bewirken. 

 

In der Beweglichkeit der Schulterblätter liegt zudem der Schlüssel zum „Höhlen der Brust“ (han xiong). So wird ermöglicht, dass einerseits das Qi ungehindert über den gestreckten Rücken (ba bei) in die Arme strömt, andererseits über die Brust zum unteren Dantian hinunter sinkt (qi shen dantian). Doch die Bewegung der Schulterblätter und Arme ist nicht allein, was zählt. Es gilt dabei, die Schultern konstant zu senken (chen jian), die Ellenbogen hängen zu lassen (zhui zhou) und auch beiderseits das "Schulternest" zu lösen und öffnen (song kai jian wo). Armhaltungen und Bewegungen sind im Qi Gong also eine ziemlich komplexe Angelegenheit und haben mit entspannter Gymnastik nur wenig gemein.  

 

 

Song Yao Song Kao

In meinem zweiten Beispiel geht es um die Stellung des Beckens. In der meisten Qi Gong-Literatur wird angewiesen, das Becken zu kippen. Dasselbe tun viele Qi Gong-Lehrer. Bei deutlicher Hohlkreuzbildung mag diese Anweisung etwas für sich haben, trotzdem ist sie für sich alleine stehend inkorrekt. 

 

Warum ist die Stellung des Beckens so entscheidend? Nur durch die korrekte Ausrichtung des Beckens können Oberkörper und Unterkörper optimal zueinanderfinden, erfährt der tiefe Rücken Entlastung und werden Zentrierung und Verwurzelung möglich. Das Becken ist so ziemlich der zentrale Bereich, der entscheidet, ob eine Bewegungsausführung zu innerer Übung taugt oder sie völlig unmöglich macht.

 

Die Frage ist jedoch, ob das Becken tatsächlich aktiv gekippt werden soll oder vielmehr ein Prozess eingeleitet werden muss, der dazu führt, dass das Becken kippt. Ersteres ist eine äußere Bewegung, die nicht viel mehr Gutes bewirkt als den oberen Rücken zu strecken. Letzteres dagegen ist die Folge gezielter innerer Arbeit, die den Rumpf mit den Beinen und die Wirbelsäule mit den Füßen verbindet. Die Anweisung, die in diesem Kontext auf Chinesisch gegeben wird, lautet Chui Tun – „das Gesäß (Becken) hängen lassen“ –, was äußerlich wie ein Kippen des Beckens aussehen mag. Innerlich geschieht jedoch etwas völlig anderes. Das bloße Kippen des Beckens erfordert nur etwas dosierte Muskeltätigkeit und ist keine Kunst. Um das Gesäß jedoch „hängen zu lassen“, müssen Voraussetzungen erfüllt sein, die jahrelanges Üben erfordern: Song Yao – „den Taille-/Lendenbereich lösen“ und Song Kua – „den Hüft-/Leistenraum lösen“. 

Ohne Song Yao und Song Kua, die nicht nur ein einfaches Entspannen, sondern auch Öffnen dieser Regionen bezeichnen, kann das Becken nicht „hängen“ und das erstrebte Wei Lu Zhong Zheng – das „Aufrichten des Steißbeins“ –, das die Wirbelsäule an die Füße anschließt, kann nicht geschehen. Nicht die Kippbewegung des Beckens ist also das Entscheidende, sondern das Loslassen und Senken des Gesäßes mit hängender und sitzender Kraft (zuo li). Mit dieser Aktion geht gleichzeitig das „Aufspannen des Beckenbodens“ (diao dang) einher und das „Umwickeln der Hüfteregion“ (guo dang). Ich wage an dieser Stelle zu behaupten, dass es nicht viele Qi Gong praktizierende gibt, die um die komplexe innere Fertigkeit wissen, das Becken richtig auszurichten, und noch weniger, die es darin zur Meisterschaft gebracht haben.  

 

Wenn Schultergürtel und Beckengürtel gemäß der inneren Prinzipien ausgerichtet und geführt werden können, gilt es zudem, beide miteinander zu verbinden, denn der ganze Körper muss als Einheit fungieren. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil des inneren Prinzips, den Ober- und Unterkörper (shang xia xiang sui) zu koordinieren.   

 

 

Fazit

Innere Prinzipien wie Han Xiong Ba Bei Chen Jian Zhui Zhou für den Schultergürtel und Chui Tun Song Yao Song Kua Wei Lu Zhong Zheng für den Beckengürtel sind kein Geheimnis und können in der einen oder anderen guten Fachliteratur nachgelesen werden. Auch gibt es sicherlich viele Lehrer, vor allem im Taiji Quan, die um diese Haltungsanforderungen wissen und sie in ihrem Unterricht erwähnen. Dennoch zeigt die Praxis, dass nur wenige Qi Gong- und Taiji-Übende und selbst Lehrer diese Prinzipien in einem zufrieden Maße umsetzen können. 

 

Meines Erachtens liegt das daran, dass bloße Vorstellung (im Kopf) mit tatsächlicher Befähigung (im Körper) verwechselt wird, die Idee mit tatsächlicher unmittelbarer Erfahrung. Auch wird sicherlich unterschätzt, dass es bei diesen Anweisungen nicht um äußere Parameter geht. An „hängenden Ellenbogen“ und „sinkenden Schultern“ scheint nichts „Inneres“ zu sein und so meinen viele, es gehe dabei um die richtige Technik, anstatt um eine innere Befähigung und innere Kraft. Allerdings können „hängende“ Ellenbogen durch keine äußere Bewegungsführung oder Haltungskorrektur „gemacht“ werden, ebenso wenig wie ein hängendes Becken einfach durch ein aktives Beckenkippen entsteht. 

 

Der Schlüssel zu der speziellen Befähigung, die Qi Gong-Prinzipien zu erfüllen, liegt in der Entwicklung der unumgänglichen Fähigkeit, „nach innen zu blicken“ (nei shi). Doch die stetige Entwicklung des Nei Shi Gong Fu erfordert Jahre regelmäßiger Übungspraxis und kann durch keine noch so präzise Technik ersetzt werden. Es ist ein Weg, der spezielle Methoden des Übens erfordert, um Früchte tragen zu können und umso mehr, wenn die eigene regelmäßige Übungszeit gering ausfällt. Wie das Nei Shi Gong Fu tatsächlich entwickelt wird und welche Methoden dabei eine Rolle spielen, dies wird allerdings der Inhalt eines anderen Artikels sein. 

 

Copyright © Torsten Schiz 2018