Weniger ist mehr
Das ursprüngliche chinesische Qi Gong ist nicht vorstellbar ohne die Lebensanschauung des frühen Daoismus. Manche mögen dabei gleich an Religion denken, doch tatsächlich ist der Daoismus vielmehr angewandte Lebensweisheit – die Kunst, die Gesetze der Natur zu erkennen und in Einklang mit ihnen zu existieren.
Wesentliche Ideale des Daoismus sind Ziran, „Natürlichkeit“, und Wuwei, das „Nicht-Handeln“, denn nach Ansicht der chinesischen Weisen entsteht durch Zwang selten etwas Gutes und ist weniger meistens mehr.
Schauen wir uns dazu einmal den ersten Vers von Spruch 48 aus dem Dao De Jing an. Ich habe hier eine Übersetzung gewählt, die in meinen Augen am Besten wiedergibt, was die Kernaussage des Textes ist. Es heißt:
Das Praktizieren von Bildung bedeutet: täglich vermehren.
Das Praktizieren des Dao bedeutet: täglich vermindern.
Das sogenannte „Praktizieren von Bildung“ ist die Grundlage des Lebens in unserer Zivilisation. Unter „Bildung“ dürfen wir nicht nur das Lernen in der Schule oder an der Universität verstehen. Es meint ganz allgemein das Ansammeln und Verarbeiten von Informationen. Tatsächlich gibt es in unserem digitalen Zeitalter keinen Bereich mehr, wo Informationen keine Rolle spielen. Unser Leben ist zu einem hoch komplexen Informationsverarbeitungsprozess geworden, sowohl im Beruf, Bildungs- als auch Privatleben.
Diese Art von Existenz kennt nur ein ständiges Hinzufügen und Vermehren. Nichts ist jemals genug, eine Information jagt die andere, ein Reiz folgt dem nächsten – ein krankhafter Rausch des ununterbrochenen Konsumierens von irgendetwas. Ich denke, der ehrwürdige Laotze wäre „entzückt“, könnte er erleben, auf welch‘ vollkommene Weise unsere Gesellschaft ein Prinzip verkörpert, das er bereits vor über 2500 Jahre als höchst ungesund beurteilt hat.
Dieser ungesunden Lebensweise steht das Praktizieren des Dao gegenüber. In der berühmten deutschen Übersetzung des Dao De Jing von Richard Wilhelm wird Dao mit „Sinn“ wiedergegeben. Das Dao ist die „Tiefenebene“ unserer Existenz, das, was ihr völlig unabhängig von äußeren Umständen Sinn und Bedeutung verleiht. Mit diesem Sinn kommen wir allerdings erst in Kontakt, wenn wir bereit sind, in Verlust zu investieren.
Der Daoismus kritisiert nicht so sehr, dass wir Menschen nicht das Richtige tun. Er merkt stattdessen an, dass wir generell zu viel, vor allem aber zu viel „Falsches“ oder Unnötiges tun. Und da solch eine disharmonische Einstellung weder zulässt zu erkennen, was das „Richtige“ oder „Notwendige“ ist, noch Zeit und Raum dafür bereithält, gilt es, das Reduzieren zu üben.
Schauen wir beispielsweise auf den rasant wachsenden Markt von Zusatzprodukten und Nahrungsergänzungsmitteln in der Lebensmittelbranche. Es wird uns suggeriert, dass wir Mangel leiden, von allem Lebenswichtigen nicht genug haben (mit „weniger ist mehr“ kann man nicht gut Geld verdienen) - nicht genug Vitamine, nicht genug Mineralien, nicht genug Spurenelemente, nicht genug Omega 3 Fettsäuren etc. Dagegen will ich mich nicht aussprechen. Aber wirklich erwiesen ist stattdessen, dass, was Ernährung angeht, die Menschen in unseren Industrienationen vor allem durch Übermaß erkranken – durch ein Zuviel des Falschen und Unnötigen.
Reduzieren vs Addieren
Wenn wir unsere Qi Gong-Praxis betrachten, werden wir tatsächlich mit dem gleichen Umstand konfrontiert. Überall begegnet uns ein Zuviel: Zuviel Gedanken, zu viel Spannung, zu viel unnötige Bewegung. Insbesondere Qi Gong-Übungen der daoistischen Tradition sind alles andere als anstrengend oder belastend und dennoch klagen vornehmlich Anfänger gern über Beschwerden. Allerdings sind es nicht die Übungen, die Beschwerden erzeugen, sondern das Zuviel, das dadurch spürbar zum Vorschein kommt.
Auch fasziniert es mich immer wieder, wie meine Schüler trotz deutlicher Anweisung und Demonstration meinerseits für ihre eigene Ausführung die unökonomischsten Varianten entdecken. Dabei ist es ja nicht so, dass die richtige Ausführung die schwierigste und komplizierteste wäre. Ganz im Gegenteil! Doch wo ein Zuviel ist, da ist es einfach unmöglich, Natürlichkeit den Vorzug zu geben.
Jetzt kann man natürlich sagen, dass meine Argumentation nicht ganz schlüssig ist. Beispielsweise wäre doch ein Zuviel an Spannung andersherum betrachtet nichts anderes als ein Zuwenig an Entspannung. Also könnte man ebenso behaupten, dass das Problem in einem Mangel läge und nicht in einem Überschuss. Theoretisch ist das richtig, praktisch jedoch nicht. Entspannung ist kein Ding, keine Ware, die man erwerben kann, um damit den Überschuss an Spannung auszugleichen. Entspannung kann weder gemacht noch einfach hinzugefügt werden. Wir entdecken sie einzig im Reduzieren des Unnötigen: dem Zuviel an Spannung und Kraft.
So ist es mit allem, das von Natur aus „gut“ und „richtig“ ist: Das Reduzieren von Geschäftigkeit führt uns zur Ruhe; mit dem Reduzieren all dessen, was wider die Natur ist, kommen wir automatisch in Einklang mit der Natur; unter dem Ballast von Selbstsucht und Egoismus leuchtet in uns ganz von selbst die Liebe klar und rein, so wie hinter allem Lärm und Chaos, Stille und Einklang auf uns warten.
Der einzige Mangel
Aber ganz so einfach, wie es sich anhört, ist es leider nicht. Etwas guter Wille allein ist nicht ausreichend, und auch mit Verboten kommen wir nicht weit. Die Motivation zu entspannen, beseitigt noch nicht unsere Verspannung. Sich zu versagen zu rauchen, beseitigt nicht das Bedürfnis nach der Zigarette. Gesetze gegen Umweltverschmutzung bringen keinen Menschen in Einklang mit der Natur, und das Gebot, selbst seine Feinde zu lieben, macht niemanden zu einem Heiligen.
Es gibt allerdings eine Kraft im Menschen, die das Potential in sich birgt, von innen heraus zu verändern und uns zum Besseren zu bewegen – zu mehr Natürlichkeit und Einklang. Und diese mysteriöse Kraft ist Bewusstheit! Tatsächlich ist der einzige wahre Mangel, an dem die Menschheit leidet, der Mangel an Bewusstheit. Man kann sogar sagen, dass jedes schädigende Zuviel in irgendeiner Weise Ausdruck dieses Mangels ist und letztlich nur durch einen Zuwachs an Bewusstheit behoben werden kann.
Wahre Bewusstheit bewirkt also Veränderung – zum Guten. Warum das so ist, das zu erläutern würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Nehmen wir das einfach Mal als gegeben hin. Die Erfahrung von Abertausenden von Menschen unterschiedlichster Kulturen der Menschheitsgeschichte gibt dieser Behauptung Recht.
Doch Bewusstheit muss entwickelt werden – im Daoismus spricht man diesbezüglich von Neiye, „innerer Kultivierung“, – und der Alltag ist dafür wenig geeignet. In unserer Schule wird daher der Kultivierung der rechten Einstellung und Bewusstheit zentrale Aufmerksamkeit gewidmet. Nicht unser Körper ist der eigentliche Gegenstand der Übung, ebenso wenig wie unser Körper das größte Hindernis darstellt, in welcher Verfassung er auch immer sein mag. Wahrer Fortschritt findet statt in unserem Geist und dort finden wir auch unsere größten Hürden. Um es mit den Worten eines Meister auszudrücken:
Die Menschen, die den Frieden außerhalb ihrer selbst im Himmel oder auf Erden suchen, sind sich nicht bewusst, dass sie schon durch diesen Irrtum allein vom rechten Weg abweichen.
Wenn wir dagegen unseren Geist schulen und stärken, wird er uns neue Reiche erschaffen und uns ein neues Leben eröffnen.
Es ist nicht nötig, die Kraft übernatürlicher Wesen zu borgen, da wir die Kraft in uns selber haben. Der Ursprung jedes Leidens ebenso wie alles, was uns Hilfe bringt, liegt in unserem Geist.
Obwohl wir daran leiden, ist das die Ursache, die uns in Wahrheit der Verehrung würdig macht.
(Ichiro Kobayashi, 1913)
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