Die Drei Prüfungen

In diesem Beitrag möchte ich einen kleinen Einblick in die universelle Lehre der "Drei Prüfungen" geben, die sich in unserer Kultur (u.a.) in der Erzählung der Versuchungen Jesu in der Wüste (Mt 4,1-4,11) niedergeschlagen hat. Diese "Versuchungen" – ich habe sie in diesem Artikel "Sackgassen" genannt – betreffen vom Schüler bis zum Meister jeden Reisenden auf dem WEG. Sie beziehen sich auf die drei Anteile, die unsere Persönlichkeit bilden und maßgeblich unser Handeln in dieser Welt bestimmen. Es ist gerade das Scheitern an diesen Prüfungen, das dazu führt, dass Oberflächlichkeit, Überheblichkeit, Fanatismus, Missbrauch und Scharlatanerie den Weg der religiösen und okkulten Traditionen säumen. Die Inneren Künste aus Fernost sind davon nicht ausgenommen.



Die erste Sackgasse
Physische Abhängigkeit: Die Sucht nach körperlichem Heil

„... befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird“ (Mt 4,3). Ich gehe davon aus, dass wir keine Steine in Brot verwandeln können. Doch können wir das Äußere vor das Innere stellen, dem Körper Vorzug einräumen vor dem, was ihn belebt. Die Inneren Künste bedeuten dann für uns nichts anderes als ein Mittel zum Zweck, „etwas für unseren Körper zu tun“.

In diese erste Sackgasse geraten wir, wenn wir erwarten, dass uns irgendetwas körperlich völlig heil machen und uns die perfekte physische Existenz bescheren könnte – reich, gesund und schön. Und wird nicht genau damit in der Esoterik- und Gesundheitsszene immer wieder geworben? Natürlich ist nichts daran auszusetzen, sich in einem gewissen Maß um körperliches Wohlergehen zu sorgen. Problematisch ist, Gesundheit und Heil allein auf ein materielles Wohlsein zu reduzieren und Wege, die unendlich viel mehr zu bieten haben, zu degradieren und Zweck zu entfremden.  

Daher begegnet der Meister dieser ersten Versuchung mit dem Schriftzitat: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein...“ (Dtn 8,3) – eine Aussage, über die es sich lohnt, ausgiebig nachzudenken.     



Die zweite Sackgasse
Emotionale Abhängigkeit: Die Sucht nach Bestätigung

„... stürz dich hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen – Sie werden dich auf ihren Händen tragen...“ (Mt 4,6). Ich denke, niemand von uns hat vor, sich von einem Dach zu stürzen, um damit Gottes Aufmerksamkeit zu erzwingen. Allerdings hält sich auch niemand von uns für den „Sohn Gottes“ – hoffe ich zumindest. Dennoch geraten auch wir in diese Sackgasse, wenn unser Tun auf Anerkennung und Bestätigung ausgerichtet ist. Die Inneren Künste werden dann Mittel zum Zweck, uns besonders und anderen überlegen zu fühlen.

Ich hatte mal eine Schülerin, deren Tai Chi sich zusehens verschlechterte als sie angefangen hatte, Reiki (esoterisches Handauflegen) zu praktizieren. Plötzlich war sie als angehende „Reiki-Meisterin“ geradezu wahnhaft darauf bedacht, Qi in ihren Händen zu fühlen (und es jedem mitzuteilen). Dazu entwickelte sie noch eine resolute Resistenz gegen jede Art von Korrektur. Wie konnte man wagen, sie, die Energie spüren und inneres Licht sehen konnte, zu korrigieren? Es erübrigt sich zu erwähnen, dass sie nicht mehr lange meine Schülerin geblieben ist.

Aufgeblasene Egos findet man in der Tai Chi-, Yoga- und Qi Gong-Szene zuhauf, vor allem, wenn eine vermeintlich spirituelle Richtung eingeschlagen wurde. Man fühlt sich, um bei dem Schriftzitat zu bleiben, wie „von Engeln auf Händen getragen“, weil man Energie spürt, Licht oder Farben sieht (mit geschlossenen Augen), sich von Prana ernährt oder was auch immer. Allerdings tappen wir gleichfalls in dieselbe Falle, wenn wir daran kranken, nicht zu diesen „Auserwählten“ zu gehören, da wir trotz jahrelanger Übungspraxis keine besonderen Fähigkeiten aufzuweisen haben.

Der Meister begegnet auch dieser zweiten Verlockung mit einem Zitat aus der Schrift: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen“ (Dtn 6,16). Ein alter daoistischer Weiser würde es wohl so formulieren: „Stelle das Dao nicht auf die Probe. So entzieht es sich dir und zurück bleibt leerer Eigendünkel. Übe dich vielmehr in Demut und Vertrauen auf deinem Weg. Fordere und erwarte auch nichts!“ Meine erste Lehrerin begegnete meinem Ehrgeiz mit den Worten: "Wenn du das Qi suchst, findest du es nicht." 


Die dritte Sackgasse
Mentale Abhängigkeit: Die Sucht nach Kontrolle

„... alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest“ (Mt 4,9). Diese letzte Versuchung ist sehr schwer zu durchschauen und tatsächlich erliegen wir ihr täglich. Sie stellt geradezu die Grundlage unserer modernen Zivilisation dar: die sklavische Ergebenheit gegenüber dem rationalen Verstand und seinen Errungenschaften.
 

 

Weit hat er uns Menschen gebracht, der Verstand: unglaubliche technische Triumphe auf der einen Seite, doch der Abgrund der Selbstzerstörung auf der anderen. Der Verstand ist gut zum Rechnen und Planen, doch kann er das Leben und seinen Sinn nicht erfassen. Aufgrund seiner Natur ist er gezwungen, an der Oberfläche zu verbleiben. Denken ist Oberfläche. All unsere Konzepte, Ideen, Vorstellungen und Ideale, selbst die edelsten, sind nur Peripherie. Das ist, was der Versucher anbietet: „alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht“ (Mt 4,8) aus dem Blick von oben – Oberfläche! Das Wesentliche, für ihn unfassbar, bleibt unsichtbar.

In die Tiefe gehen – das ist Sinn und Zweck der Inneren Künste, sei es Qi Gong, Yoga, Tai Chi oder Meditation. Doch wenn wir in die Tiefe gelangen wollen, von der Peripherie ins Zentrum des Lebens – dorthin, wo der Sinn zu finden ist –, müssen wir in die Erfahrung jenseits des Verstandes eintauchen. Tiefe kann eben nicht durchdacht, sondern muss durchlebt und beizeiten auch durchlitten werden.

Solange wir dem Hamsterrad des Denkens nicht entkommen können, solange wir Ideen, Konzepte und Philosophien (eigene oder irgendwelcher Respektpersonen, Institutionen oder klugen Bücher) vor die Unmittelbarkeit des persönlichen täglichen Übens und Erfahrens stellen, bleibt der wahre Sinn der Inneren Künste unerreichbar für uns.

Ich will den Verstand und das Denken keinesfalls „verteufeln“. Sie haben ihren Platz und ihre Aufgabe. Doch wenn wir uns dem „Teufel“ unterwerfen und ihn anbeten, meint das vor allem, die Oberfläche anzubeten und die Tiefe, den Sinn, zu verleugnen.

Auch hier kontert der Meister mit einem weiteren Schriftzitat: „Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen“ (Dtn 16,13), und das heißt doch nichts anderes als „lass ab von der Oberfläche, der du ergeben bist, und wende dich dem Wesentlichen, dem Inneren, der Tiefe zu. Aus dem Inneren, aus der Tiefe, aus dem Sinn heraus sollst du leben.“

Denn
Alles Elend wird von der Betriebsamkeit des Denkens geschaffen.
Kannst du von Worten und Ideen, von Meinungen und Erwartungen lassen?
Wenn du das kannst, wird das DAO sichtbar werden.
Kannst du still sein und in deine Tiefe blicken?
Wenn du das kannst, wirst du erkennen,
dass WAHRHEIT immer verfügbar ist,
immer zugänglich.


(Aus dem Hua Hu Ching)
Copyright © Torsten Schiz 2018