Ein zentraler Bestandteil der urdaoistischen Weltanschauung spiegelt sich in der Lehre von Yin und Yang, die namentlich allerdings viel weniger in den Klassikern Erwähnung finden, als man vermuten mag. Im Vordergrund steht vielmehr die Botschaft, dass Polarität und Dualität nicht dasselbe sind.
Yin und Yang sind seit langem auch im Westen ein Begriff. Man kennt sie als die Gegensätze, die das Leben bestimmen, und fast jeder kann dafür Beispiele nennen wie „hell und dunkel“, „Tag und Nacht“, warm und kalt“, „maskulin und feminin“. Nichtsdestotrotz wird die eigentliche Quintessenz der Yin- und Yang-Lehre nur selten begriffen, denn dem westlichen Verstand fällt es schwer, zwischen Polarität und Dualität zu unterscheiden. Yin-Yang als Stellvertreter der Polarität und die Dualität sind nämlich zwei gänzlich verschiedene Dinge – sie stehen sich diametral gegenüber. Dualität ist eine subjektive Empfindung, Polarität ist eine objektive Tatsache. Dualität trennt, Polarität verbindet.
Insbesondere den letztgenannte Umstand, der Dualität und Polarität maßgeblich unterscheidet, möchte ich etwas weiter ausführen und graphisch darstellen. Dualität erzeugt Konflikt, indem sie die Wirklichkeit (unrechtmäßigerweise) spaltet:
Polarität, die im Gegensatz zur eingebildeten Dualität die Existenzgrundlage der Natur darstellt, führt zu Interaktion:
Nehmen wir als Beispiel einen Stromkreislauf, der an an eine Batterie angeschlossen ist. Die Batterie besitzt einen Plus- und einen Minuspol. Treten Yin und Yang, sprich Plus- und Minuspol, in Verbindung, fließt Strom. Die Quintessenz der Polarität liegt demnach nicht in dem Gegensatz, sondern in dem Verbindenden: Nicht der Plus- und Minuspol der Batterie sind das Wesentliche, sondern vielmehr das wunderbare Phänomen der strömenden „Elektrizität“, das aus ihrer Beziehung hervorgeht. So ähnlich erklärt es uns auch das über 2000 Jahre alte Daodejing in Kapitel 42:
萬物負陰而抱陽沖氣以爲和
Alle Dinge tragen auf dem Rücken das Yin und umfassen das Yang.
Durch die strömende Kraft (dazwischen) entsteht Einheit.
Diese Interaktion und Einheit der polaren Kräfte in der Schöpfung ist deutlich dargestellt in dem populären Yin-Yang-Symbol, das uns allen bekannt sein dürfte:
Ein dualistisches Weltbild dagegen erkennt keine Einheit. Es betrachtet vielmehr die Batterie und stellt sich die Frage, welcher der beiden Pole wohl „besser“, „schöner“, „gewinnbringender“, „effektiver“ gegenüber dem anderen sei. Verschwunden ist das wunderbare „Dazwischen“. Die Pole werden zu Konkurrenten, ihre Beziehung ist vergessen. Das Unverständnis, Dualität und Polarität zu unterscheiden, tritt in westlichen Übersetzungen daoistischer Texte deutlich zutage. So lautet beispielsweise das obige Zitat aus dem Daodejing in der populären Übersetzung von Richard Wilhelm:
Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle und streben nach dem Licht, und die strömende Kraft gibt ihnen Harmonie.
Eine wunderschöne Übersetzung, sicherlich. Doch ihre Tücke liegt darin, dass uns diese schönen Worte zu einer dualistischen Sicht verführen. Aus Rücksicht vor der westlichen Adressatengruppe seiner Epoche (Anfang 20. Jahrhundert), der chinesisches Gedankengut vornehmlich unbekannt gewesen sein dürfte, entschloss sich Richard Wilhelm offenbar, Yin und Yang durch die Begriffe „Dunkel“ und „Licht“ zu ersetzen. Diese Vorgehensweise liegt gewissermaßen auf der Hand, da das chinesische Schriftzeichen 陰 (yīn) die Schattenseite eines Berges und 陽 (yáng) die Sonnenseite wiedergibt. Doch zu der Entstehungszeit des Daodejing galten Yin und Yang bereits als Inbegriffe der Polarität, während im Gegensatz dazu im westlichen Denken „Dunkelheit“ und „Licht“ vielmehr Sinnbilder der Dualität darstellen. Dadurch wird unser Empfinden für den Text in eine völlig irrige Richtung gelenkt.
Auch die weitere Übersetzung des Verses macht es nicht besser, im Gegenteil. „Im Rücken das Dunkle haben“ und „nach dem Licht streben“ lässt zweifelsfrei den Eindruck aufkommen, dass das Licht dem Dunkel vorzuziehen sei.
Ich maße mir nicht an, zu behaupten, der Missionar Richard Wilhelm habe tatsächlich die Absicht verfolgt, eine dualistische Botschaft zu vermitteln oder er sei selbst diesem Irrtum erlegen, doch ist es eine Tatsache, dass in dem chinesischen Text keinerlei dualistische Tendenz existiert. Dieser Vers ist vielmehr ein vollkommenes Beispiel für die untrennbare Symbiose der polaren Kräfte. Nach chinesischer Anschauung wird der Rücken nämlich dem Yang zugeordnet, die Vorderseite des Rumpfes dem Yin. Demnach heißt es gewissermaßen im Original: „Das Yang (der Rücken) trägt das Yin und das Yin (die Vorderseite) umfasst das Yang“. Yin und Yang sind also untrennbar ineinander verwoben.
Auch der zweite Vers hält mehr für uns bereit als jede Übersetzung bieten kann. Wilhelm spricht von „strömender Kraft“, und auch ich habe im obigen Kontext diese Übersetzung gewählt. Das Schriftzeichen 沖 für „strömend“ kann allerdings gemäß einiger Sinologen auch „leer“ bedeuten. Und in manchen Manuskripten des Daodejing steht gar ein ähnliches Zeichen (中) mit der Bedeutung „inmitten“, „dazwischen“. Das Wunderbare ist, dass alle diese Begriffe tatsächlich vollkommen Sinn ergeben. Denn die Kraft oder Energie, von der hier die Rede ist – nämlich das Leben selbst –, strömt zwischen den Polen und ist leer, das heißt „neutral“. Leben findet eben zwischen den Gegensätzen statt und ist weder das eine noch das andere, sondern das unbegreifliche Wunder, das uns, wenn wir bereit sind, jedes dualistische Denken aufzugeben und uns hinzugeben, Frieden, Harmonie und Einheit schenken kann.
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