Die daoistische Kunst der Mäßigung (1)
Wenn ich mich vom Leben überfordert fühle, dann halte ich mich gerne an eine bewährte Taktik: Ich greife eines der Weisheitsbücher aus meinem Bücherregal und schlage willkürlich eine Seite auf. Worauf mein Blick fällt, das nehme ich als eine persönliche Botschaft, mit der ich mich dann intensiv beschäftige.
Corona und die damit einhergehenden Pressemitteilungen lassen mich nicht kalt. Auch mir ist inzwischen klar, dass diese globale Krise mein Leben, beruflich und persönlich, über Monate zeichnen wird. Voll mit unguten Befürchtungen, habe ich daher vor ein paar Tagen bei Laotze Rat gesucht. Der „Zufall“ wählte das 59. Kapitel des Daodejing für mich aus und ich finde, es passt wie die Faust aufs Auge. Daher möchte ich den weisen Rat, den der ehrwürdige Meister Laotse mir gab, mit euch teilen:
治 人 事 天 莫 若 嗇
Menschliches regeln und sich Spirituellem widmen –
für beides gibt es nicht Besseres als Mäßigkeit.
Daodejing, 59, 1
Ich lese diesen ersten Vers und schon fühle ich mich ertappt. Er hält mir vor Augen, wie unmäßig ich mich über die letzten Tage mit dem Corona-Thema beschäftigt habe. Mehrmals am Tag verfolgte ich die neusten Berichte über mein Smartphone, recherchierte aktuelle Artikel, redete ständig mit anderen darüber und meine Gedanken kreisten unablässig um besorgniserregende Zukunftsvisionen.
Das mag menschlich sein, besonders daoistisch ist es jedenfalls nicht. Und gesund ist es schon einmal gar nicht! Denn unsere Medien dienen selten dazu, sachlich aufzuklären. Mäßigung kennen sie jedenfalls nicht. Sie bedienen vielmehr unseren gesellschaftlichen Informations- und Sensationswahn. Mir wurde klar, dass ohne ein gewisses Medien-Fasten, es für mich schwer sein würde, dieser Krise konstruktiv zu begegnen. Genau das lässt mich auch der zweite Vers wissen:
夫 唯 嗇 是 謂 早 服
Denn allein Mäßigkeit bedeutet,
dass wir frühzeitig angemessen reagieren können.
Daodejing; 59,2
Das Stichwort des 59. Kapitels des Daodejing ist 嗇 und das bedeutet „Sparsamkeit“, „Zurückhaltung“, „Mäßigkeit“ und „Mäßigung“. Doch Mäßigung ist unserer Spezies völlig fremd. Unsere Welt leidet, und sie leidet allein aus diesem Grund. Und das zeigt auch die vorherrschende Reaktion der Bevölkerung auf die mediale Verunsicherung: leergehamsterte Regale in den Supermärkten, Kämpfe um Toilettenpapier – peinliche Entblößung der Egomanie einer konsumkranken Gesellschaft. Oder, um eine wertgeschätzte Schülerin von uns zu zitieren: „Wenn man dann sieht, dass die einzige Sorge vieler Leute darin besteht, sich mit Klopapier einzudecken, kann man (wie so oft) an der Menschheit einfach nur verzweifeln. Was die Leute interessiert, ist nur, wie man sicherstellt, den eigenen kleinen armseligen Arsch abzuwischen“ (Denise Ritter).
Unsere Welt leidet, das wissen wir alle, doch sie leidet an unserer Unmäßigkeit in allen Bereichen unseres Lebens. Der Virus, unser „Feind“, er lehrt uns Mäßigkeit, ja unbarmherzig zwingt er uns, diese Tugend für uns neu zu entdecken. Plötzlich ist die Luft der chinesischen Provinz Hubei, nachdem das öffentliche Leben in ihrer Hauptstadt Wuhan drastisch eingeschränkt worden ist, so rein wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Venedig, die historische Kloakenstadt, besitzt plötzlich wieder kristallklares Wasser in ihren Kanälen. Mutter Natur lehrt uns die heilende Kraft der Mäßigung. Und sie tut es bisher auf gnädige Weise. Was wäre, der Virus würde nicht in erster Linie Alte und Kranke, sondern unsere Kinder – unsere Zukunft – töten?
Und wenn wir schon vom Töten sprechen: Jährlich verschwinden ca. 58.000 Tierarten von diesem Planeten – ausgelöscht einzig von unserer globalen Maßlosigkeit. Doch nicht allein Mutter Natur leidet. Wir Menschen, als ein Teil von ihr, leiden auch. Allein die Luftverschmutzung tötet in den großen Metropolen dieser Erde jährlich Hunderttausende von Menschen (z.B. in Kairo, der Hauptstadt Ägyptens, sind es bis zu 25000 pro Jahr). Unsere Maßlosigkeit tötet … und am Ende tötet sie uns.
Deshalb nehme ich den Rat Laotzes in unserer Corona-Krise ernst. Corona ist eine Herausforderung unserer Mutter Natur, kein Zufall, kein Unglück, keine Strafe. Wir werden herausgefordert, uns zu besinnen, und darin liegt eine große Chance.
Fortsetzung folgt
Torsten R. Schiz
Movement - Schule für Yoga, Qi Gong, Taiji Quan und Meditation
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