Die daoistische Kunst der Mäßigung (2)
治 人 事 天 莫 若 嗇
Menschliches regeln und sich Spirituellem widmen –
für beides gibt es nicht Besseres als Mäßigung.
Daodejing, 59, 1
Mäßigung gilt im Daoismus als Erfolgsrezept in allen Lebensbelangen, allerdings nicht als ein puritanischer Verzicht, sondern vielmehr als Strategie, um genügend Raum für Genuss und Freude, Gesundheit und Harmonie zu schaffen. Oder andersherum betrachtet: Es ist vor allem das Übermaß, das uns und die Welt, in der wir leben, krank macht und zerstört. Trotzdem hält uns das nicht davon ab, fleißig weiter an dem Ast zu sägen, auf dem wir sitzen, denn Maßhalten ist wirklich nicht unsere Stärke.
Tatsächlich können wir aber gar nichts dafür. Wir sind in eine Gesellschaft hineingewachsen, in der – wie niemals zuvor – Überfluss ein Allgemeingut geworden ist. Das hat natürlich seine Annehmlichkeiten, aber Informations- und Reizüberflutung, Schnelllebigkeit und Leistungsdruck sind die andere Seite der Medaille, und diese krankmachenden Auswüchse einer Wohlstandsgesellschaft werden von uns nicht nur akzeptiert, sondern als völlig normal empfunden.
Normal sollte allerdings nach daoistischem Verständnis ein Lebensstil sein, in dem Ruhe, Freude, Zufriedenheit und ein liebe- und rücksichtsvoller Umgang mit der Mitwelt vorherrschend sind. Und dies ist – gemäß den Lehren Laotses – ohne Maßhalten ein Ding der Unmöglichkeit:
夫 唯 嗇 是 謂 早 服
Denn allein Mäßigung ermöglicht,
von Anfang an richtig in Beziehung zu treten.
Daodejing; 59,2
Warum opfern wir dem Überfluss die Möglichkeit auf ein fried- und freudvolles Dasein? Der tatsächliche Grund ist, dass wir den Mangel fürchten; wir fürchten ihn, weil unsere Sterblichkeit uns gnadenlos vor Augen hält, dass Verlust unabwendbar unser aller Schicksal ist. So versuchen wir, uns mit einem Lebensinn zu trösten, der in der scheinbaren Geborgenheit des weltlichen Wohlstands liegt. Das Haben dient als Kompensation für die mutmaßliche Endlichkeit unseres Seins. Der innere Mangel an Sicherheit, den wir insgeheim empfinden und der auf einem existentiellen Irrtum beruht, treibt uns in die äußere Maßlosigkeit.
Daher wird auch der wohl berechtige Protest von Klimaschützern und Umweltaktivisten wenig nützen. Denn alle – diejenigen, die am Wohlstand festhalten wollen, als auch diejenigen, die zum Verzicht aufrufen – unterliegen demselben Trugschluss: dass die Probleme der menschlichen Existenz, mit denen wir uns zunehmend konfrontiert fühlen, als auch deren Lösung „da draußen“ zu finden seien. Die Blickrichtung ist bei ihnen allen die Falsche.
Eckart von Hirschhausen erklärte kürzlich im „Kölner Treff“, dass es gar nicht um Verzicht ginge, sondern vielmehr um das Streben nach einer Welt, die „viel attraktiver, schöner und lebenswerter ist, als das was wir im Moment kennen“. Diese „schönere, attraktivere und lebenswertere Welt“ hat es jedoch bereits gegeben – von Dichtern aus aller Welt besungen – und sie hat die Menschen nicht davon abhalten können, sie systematisch auszubeuten und zu zerstören.
Wenn wir glauben, dass die Welt, um die wir uns jetzt bemühen müssten, außerhalb von uns ist, werden wir scheitern. Daher ist Laotse weit davon entfernt, lauthals die Mäßigkeit als Allheilmittel zu preisen, denn er weiß, dass dadurch die Welt nicht automatisch besser und schöner wird. Mäßigung ist für ihn lediglich das Mittel zum Zweck, das Richtige tun zu können:
早 服 謂 之 重 積 德
Von Anfang an richtig in Beziehung zu treten, das bedeutet,
vermehrt „Innere Kraft“ zu sammeln.
Daodejing, 59, 3
Das Zeichen 德 (dé), das Laotse hier gebraucht, ist schwer zu übersetzen. Es bezeichnet etwas, das in unserer extravertierten Welt nahezu unbekannt ist. Eine mögliche Übersetzung lautet „Innere Kraft“, und das vordringliche Ziel des Daoisten ist das Kultivieren dieser „Inneren Kraft“. Warum? Das erfahren wir im nächsten Vers:
重 積 德 則 無 不 克
Vermehrtes Sammeln der „Inneren Kraft“ bewirkt,
dass wir mit allem fertig werden können.
Daodejing, 59, 4
Ohne 德 (dé) sind all unsere Bemühungen, das Leben auf diesem Planeten friedvoller und harmonischer zu gestalten und ihm einen tieferen Sinn zu geben, auf Dauer zum Scheitern verurteilt. Dann leben wir in einer Gesellschaft, die schmerzlich zu lernen hat, dass Bildung keine Intelligenz, Gesetze keine Güte, Medikamente keine Gesundheit und Waffen keinen Frieden schaffen – und Verzicht keine wahre Genügsamkeit. Ein Leben ohne 德 (dé) ist wie die Reise auf dem Ozean des Lebens in einem Boot, das voller Löcher ist, während wir versuchen, uns vor Regen zu schützen.
Doch die gute Nachricht ist: Diese „Innere Kraft“ ist in jedem von uns und zwar ohne Ausnahme. Sie ist das, was uns erst zu Menschen macht – zur „Krone der Schöpfung“ –, denn ohne sie sind wir nichts als ein intelligentes Tier. Man könnte sagen: Je weniger 德 (dé), desto skrupelloser und egomanischer ist der Mensch; je mehr 德 (dé), desto großherziger, rücksichtsvoller, altruistischer ist er und damit ein Segen für seine Mitwelt. Es ist dieser innere Reichtum, der uns auch „immun“ gegen jede zerstörerische Maßlosigkeit macht, denn „ein Mensch, der sich erfüllt fühlt, ist zufrieden und glücklich, selbst wenn er auf dem Boden schläft. Wer sich nicht erfüllt fühlt, dem ist selbst ein Himmelspalast noch nicht genug“ (der Buddha).
Dieser außergewöhnliche Weg zu innerer Kraft und Erfüllung beginnt allerdings mit der gefürchteten Mäßigung, denn solange wir uns in der Welt verlieren, mitgerissen werden von dem Strom der Geschäftigkeit um uns herum, ist es unmöglich, mit dem Leben in Beziehung zu treten, wie Laotse es verlangt. Solange wir gestrandet bleiben im „Außen“, bleibt uns der Weg nach innen und damit zu uns selbst und zu unserem unbegrenzten Potential verwehrt.
Die aktuelle Krise, sie ist eine Herausforderung, das haben wir zu Genüge gehört. Doch diese Krise ist für uns alle auch eine Chance umzudenken – durch das erzwungene „Maßhalten“ unsere Beziehung zu all den Dingen, die unser Leben ausmachen, zu überdenken. Sie ist eine Chance, neue Horizonte zu erobern, neue Fähigkeiten zu entdecken, zu erkennen, was uns wirklich wichtig ist. Vor allem ist sie aber die Chance, den Fokus von dem Außen mehr zu uns und in uns selbst zu lenken, um den WEG zu entdecken und zu kultivieren, der uns so unendlich bereichern kann.
Auf diesem WEG sind wir für Euch da!